Aus einem Artikel über Bundesrätin Baume-Schneider im Tagesanzeiger vom 17. Juni: „In den parlamentarischen Sachkommissionen staunt man zuweilen darüber, wie offenherzig die studierte Sozialwissenschaftlerin ihre juristischen Defizite eingestehe und ihren Fachleuten das Wort überlasse. «Wenn du als Bundesrätin an einer Kommissionssitzung zu verstehen gibst, dass du die Person mit der geringsten Ahnung im Raum bist, wirst du nicht ernst genommen», sagt ein erfahrenes Ratsmitglied.“
Gibt mir zu denken. Das heisst dann also, du wirst dann ernst genommen, wenn du fachliche Defizite negierst und so tust, als könntest du mit sämtlichen anwesenden Spezialisten locker mithalten, was doch komplett unplausibel ist? Aus welchem Jahrzehnt stammt denn dieses Modell? Wie oft waren Sie als Fachspezialist:in in einem Raum mit einer Führungskraft und mussten mühsam all Ihre Atemtechniken mobilisieren, um nicht zu platzen, während Sie ständig mit Halbwahrheiten in ihrem Kernfach korrigiert wurden?
Aber damit nicht genug: sollte es uns nicht besorgen, dass es in solchen Kommissionen offenbar „für Erstaunen sorgt“, den Fachleuten das Wort zu überlassen? Das klingt ja, als würden die irgendwie nur stören. „Schweig, Anwalt, ich bin schliesslich Kommissionsmitglied“?
Gut, jetzt nehme ich natürlich an, dass das zitierte „erfahrene Ratsmitglied“ auch nicht nur blöd ist: klar macht es sich schlecht, wenn ich einen Bereich leite, insbesondere eine Fachkommission, und absolut ahnungslos bin. Natürlich muss ich etwas wissen über das Fachgebiet, das ich leite, aber in einer Führungsposition sollte ich vor allem die Person sein, die am besten führen kann, oder? Und da wage ich mal eine kühne Behauptung: wenn Sie jemand haben, die exzellent führt, die Qualität einer Diskussion erkennt und positiv beeinflussen kann und dafür sorgt, dass die, die etwas zu sagen haben, auch zu Wort kommen, dann kann das Fachwissen dieser Führungskraft durchaus relativ klein sein, und das Resultat exzellent.
Umgekehrt eher nicht, denn dann dominiert einfach eine einzelne Fachmeinung. Und eins kann ich Ihnen aus Erfahrung sagen: Führungsqualität zu entwickeln dauert bedeutend länger als Fachkenntnisse erwerben, also lieber mit einem Fachdefizit starten als mit einem Führungsdefizit.
Der entscheidende Punkt aber – sorry, dass ich dafür jetzt so lange gebraucht habe – ist hier der folgende: Es gibt einen Unterschied zwischen Ahnungslosen und Nichtwissenden.
Moderne Führungskonzepte inklusive alle agilen Modelle gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass es nützlich ist, sich als Nichtwissende:r zu verstehen, wenn man sich einer Problemstellung annähert, und dieses Nichtwissen als Quelle von Neugier und Offenheit zu nutzen – das leuchtet die blinden Flecken aus, schützt vor voreiligen Schlüssen, erhöht die Perspektivenvielfalt und führt so zu besseren Entscheidungen.
In oberen Etagen scheint das (noch) nicht zu funktionieren, oder zumindest meist nicht. Da scheinen wir es mit einer Art Emergenz zu tun zu haben. Die gibt’s in der Physik: bei immer tieferen Temperaturen werden gewisse Materialen plötzlich zu Supraleitern. Und die gibt es offenbar auch in der Hierarchie: ab einer gewissen Hierarchiestufe scheint es plötzlich doch wieder um Macht und Heldenqualitäten zu gehen.
Was aber logischerweise bedeuten würde, dass die Diskussions- und Entscheidungsqualität in der Hierarchie nach oben immer schlechter wird – kein beruhigender Gedanke, wenn Sie mich fragen. Oder möchten Sie als obere Führungskraft feststellen müssen, dass alle in der Firma intelligenter diskutieren als Sie? Abgesehen davon, dass das für Sie selbst nicht schön wäre, es wäre auch ziemlich übel für Ihre Firma, unter uns gesagt.
Wir brauchen mehr Nichtwissen. Ahnungslos sollten Sie nicht sein, nichtwissend dagegen sehr oft.