Organisationsberatung: Messgrössen als Anästhetikum

Dashboard, Cockpit, Houston Control, Ampelsystem – wie man es auch nennt, es soll Managern die Navigation erleichtern und Entscheidungsgrundlagen liefern in Situationen, die man nicht einfach so über den Daumen beurteilen kann und sollte. Die Namen dieser Systeme sind häufig der Welt des Verkehrs entnommen – Nautik, Aviatik, Raumfahrt, Strassenverkehr -, was impliziert, dass es um Steuerung geht, und darum, sicher und rasch ans Ziel zu kommen. So weit, so gut.

Nun gibt es eine Reihe von Problemen, angefangen damit, dass eine Messgrösse meist nur dann ernst genommen wird, wenn sie in Form einer Zahl daherkommt. Das führt dazu, dass selbst die analogesten Daten in Zahlen übersetzt werden: „Wie zufrieden sind Sie mit unserer Dienstleistung auf einer Skala von 1 bis 4?“, mit Zielwert 3,4. Der ganze innere Film, der bei einem Befragten abläuft, bevor er sein Kreuz setzt, läuft dabei in einem leeren Kino ab – die Fragenden sitzen jedenfalls nicht drin. Und was dieses Kreuz tatsächlich in seiner Substanz bedeutet, wird durch die radikale Reduktion praktisch wegerodiert.

Diesem Problem kann man begegnen – zum Beispiel mit noch mehr Kennzahlen...die Kräfte der Belegschaft reichen manchmal kaum aus, um diese Zahlenberge zusammenzutragen, geschweige denn, um etwas mit ihnen anzufangen. Klar übertreibe ich da ein wenig – vielleicht. Jedenfalls lohnt es sich, auf diese Art der inneren Anästhesie zu achten, sie kann eine ganze Organisation erlahmen lassen, und das erst noch ohne echten Ertrag.

Nun gibt es zweifellos auch sehr gute Messmethoden; aber ganz egal, wie ausgefeilt und ausgeklügelt solche Messgrössen und Kennzahlen sein mögen, sie bleiben per Definition dennoch Abstraktionen der Wirklichkeit. Und an diese wird nicht selten die Höhe des Bonus gekoppelt, was verständlicherweise dazu führt, dass die betreffenden Mitarbeitenden in der täglichen Arbeit immer wieder auf diese Messgrössen schielen und ihre Energie darauf verwenden, so zu arbeiten, dass sich diese wunschgemäss entwickeln. Dies wiederum birgt das starke Risiko, dass sie sich nicht mehr auf die Kunden und den Markt fokussieren, sondern auf deren Abstraktion. Die ist im besten Fall recht gut getroffen; selbst dann gehen die Nuancen verloren. Den schlechtesten Fall mag man sich gar nicht vorstellen. Messgrössen haben das Potential, die ergiebigste Quelle von Trendinformationen und Innovation zu anästhesieren. Dann gesellt sich zur inneren Anästhesie auch noch eine äussere. Wenn wir diese Analogie weiterziehen, darf man wohl behaupten, dass dann der Erstickungstod kaum noch zu verhindern ist. Organisationsentwicklung findet so auf jeden Fall nicht statt.

Im Weiteren besitzt jede Berufsgattung im soziologischen Sinn ihre eigene Folkore, und damit auch ihre tradierten Standardmessgrössen. Diese orientieren sich - besonders, da sie tradiert und deshalb nicht mehr ganz jung sind - teilweise mehr daran, was einfach zu messen ist, als an unternehmensspezifischen Zielsetzungen, und sind mit einiger Wahrscheinlichkeit wenig konzertiert mit Messgrössen aus anderen Unternehmensbereichen. Ausserdem wird eine Änderung der Messgrössen von deren Verteidigern oft als schwierig bezeichnet, weil dann die Vergleichbarkeit mit den Vorjahren flöten gehe. Und so werden Messgrössen um ihrer selbst willen am Leben erhalten und drehen sich um sich selbst.

Weiterbildungen beispielsweise werden gerne mit der Anzahl Stunden und/oder Franken pro Mitarbeitenden gemessen, die für sie eingesetzt werden. Das liefert jedoch kaum eine andere Aussage als „wir strengen uns wahnsinnig an“. Immerhin passt diese Aussage für jedes beliebige Ziel...richtig interessant wäre aber, was eigentlich dabei herauskommt auf lange Sicht.

Abstraktion und Reduktion sind notwendig, das gilt für die Wahrnehmung von Einzelpersonen wie auch für Organisationen: Sie kommen nicht darum herum, ein Modell zu konstruieren, das notwendigerweise die Realität reduziert. Problematisch wird es dann, wenn diese Reduktion aus dem Bewusstsein verschwindet, nicht regelmässig überprüft wird, und letztendlich in der Wahrnehmung den Platz der Realität einnimmt. Dann wirkt das Modell als Anästhetikum, nach innen und nach aussen, Sie verpassen insbesondere die schwachen Signale aus dem Unternehmensumfeld und riskieren den Blindflug.
Die einfachste Gegenmassnahme ist direkte Kommunikation mit Mitarbeitenden, die ihrerseits in direkter Kommunikation mit dem Unternehmensumfeld stehen – egal ob das in Form von gross angelegten, institutionalisierten internen Trendsymposien oder im informellen Rahmen geschieht. Organisationsentwicklung geschieht im Wesentlichen im Dialog. Alles, was den Austausch belebt, wirkt präventiv gegen Anästhesie; die Fühler nach aussen müssen sensibel bleiben und ihre Informationen müssen das Management erreichen.

In diesem Sinne: Messen Sie, reduzieren Sie, abstrahieren Sie – alles in Ordnung, bloss passen Sie um Himmels Willen auf, dass Sie Ihr Unternehmen nicht anästhesieren – selbst die Titanic hat das nicht überlebt.

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