„Ausdifferenzierung“ ist eins der Lieblingswörter der Anhänger von Luhmanns Systemtheorie: Systeme differenzieren sich immer weiter aus – klingt irgendwie anstrengend, finde ich. So, als würde alles ausfransen und immer noch komplizierter und komplexer werden. Was ja wahrscheinlich auch der Fall ist, immerhin gilt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ja auch immer noch. Sinngemäss, wenn ich das richtig verstanden habe: die Unordnung in einem System nimmt immer nur zu, wenn man nicht eingreift. Kennen wir ja, Kinderzimmer und so.
Aber Unordnung kann auch schnell mal in Organisationen entstehen: bei der Gründung ist alles ist noch einfach und direkt. Dann wächst die Organisation. Irgendwann sollte sich mal jemand um Human Resources kümmern, und mit der Zeit entstehen Spezialisten und spezialisierte Abteilungen, die sich je um eine wichtige Facette des Unternehmens kümmern.
Leider kümmern sie sich aber auch oft übermässig um sich selbst: es entstehen professionskulturelle Inseln, und die Spezialisten denken sich Lösungen aus, die möglichst einfach umzusetzen und innerhalb des eigenen Spezialgebietes optimiert sind. Aber ob sie auch dem grossen Ganzen ideal dienen, steht auf einem anderen Blatt.
Was optimal für die IT ist, ist unter Umständen für die Anwender ein Alptraum. Was für den Verkauf das Nirwana ist, macht die Compliance wahnsinnig und die Buchhaltung auch gleich mit. Was für den Support prima ist, lässt Kunden in Warteschlaufen verenden...
Spezialisierung ist allerdings nicht zu vermeiden und schreitet stetig voran: die Spezialgebiete in sich selbst werden ebenfalls immer differenzierter, und so wächst mit der Spezialisierung auch die Fragmentierung. Wenn in dieser Situation eine koordinierende ausrichtende Kraft fehlt, beginnen Organisationen immer mehr einem Tinguely zu ähneln: immer in Bewegung, lustig anzusehen, und bar jeder Zielstrebigkeit. Oder man wird erinnert an den Monthy Python Sketch mit dem Hundertmeterlauf für Männer ohne Orientierungssinn...
Was tun? Immer wieder mal aufräumen ist eine Option. Ziemlich anstrengend, aber wohl nicht ganz zu vermeiden. Schöner wäre natürlich, wenn alle ständig selber Ordnung halten würden. Das wird im Rahmen einer integrativen Organisationsentwicklung möglich, wenn überall ein hohes Bewusstsein für übergeordnete Leitplanken und für Wechselwirkungen zwischen dem eigenen Feld und dem Rest der Organisation besteht – und natürlich die Belohnungssysteme nicht auf die Optimierung der Eigeninteressen zugeschnitten sind (Fragmentierung ahoi)...
Das wiederum bedingt ziemlich viel Kommunikation, Austausch und Dialog, also erst mal Aufwand. Die Wette dabei lautet, dass sich dieser Aufwand langfristig auszahlt, und ich finde diese Wette ziemlich plausibel und deshalb natürlich auch, dass sich Organisationsentwicklung extrem lohnt. Die Gründe, auf diese Investition zu verzichten, sind oft wenig überzeugend und klingen in etwa wie „ich habe keine Zeit, den Bagger zu holen, ich muss schaufeln“.
Wer regen ständigen interdisziplinären Austausch ins Organisationsdesign einbaut, dürfte langfristig grosse Vorteile haben. Vielleicht holen Sie also doch lieber mal einen Bagger, und den Tinguely schauen Sie sich im Museum an – macht beides Freude, wenn man beides schön dort lässt, wo es hingehört.