In einem Interview mit Philomena Colatrella, Vorsitzende der Konzernleitung der Krankenkasse CSS, war Folgendes zu lesen: „Seien wir ehrlich: eine Führungskraft kann unmöglich in jeder Situation authentisch sein…man kann seinen Emotionen und Gedanken nicht jederzeit freien Lauf lassen.“
Interessante Gleichung: „authentisch sein“ = „seinen Emotionen und Gedanken jederzeit freien Lauf lassen.“ Also wenn das stimmt, dann möchte ich keinem authentischen Menschen begegnen. Was so eine emotionale Inkontinenz anrichtet, demonstriert ja seit einigen Jahren der Mann mit der Tolle.
Das kann es ja nicht sein. Wenn wir ständig jedem jeden unserer Gedanken vor die Füsse reihern würden, gäbe es kaum eine stabile Beziehung auf der Welt. Eine gute Freundin kommt um die Ecke, und Sie denken „Gott, sind diese Schuhe hässlich...“? Das sagen Sie nicht. Das behalten Sie für sich.
Worum es wirklich geht, ist, eine gute Auswahl zu treffen. In uns drin quasselt es ja ständig, da wir uns meist nicht in meditativer Leere befinden, auch wenn man das schade finden kann. Was wir sagen, ist also eh bloss eine Auswahl aus allem, was uns durch den Kopf wuselt. Entscheidend ist, dass das, was wir sagen, authentisch ist. Selektive Authentizität nennt man das, und zwar schon seit ziemlich langer Zeit.
Nun gibt’s natürlich Situationen, in denen selbst das schwierig ist:
Solche und ähnliche Situationen hat Frau Colatrella ja wohl auch gemeint. Mit Authentizität hat das aber nur am Rande zu tun, denn selbst solche Sachzwänge kann man erklären, wenn’s dann mal raus ist. Authentisch sein in einer Leadership Rolle kann auch heissen, im Nachhinein zuzugeben, dass man sich gezwungen sah, manche Dinge zu verschweigen. Solange das nicht auf bösem Willen oder Vorteilsnahme beruht, trägt das sogar zur Glaubwürdigkeit bei.
Und dann gibt’s da noch folgende Frage: wenn ich gewohnheitsmässig lüge, bin ich dann beim Lügen authentisch? Na ja, irgendwie schon, aber auch nur, wenn man ausschliesslich auf sich selbst bezogen ist, und einem die Beziehungen zu anderen Menschen vollkommen egal sind. Das wären aber keine guten Voraussetzungen für eine Leadership Rolle. Wieso fällt mir da wieder die Tolle ein? Egal.
Dass niemand ganz unbefleckt durch das komplexe Geflecht aus Erwartungen, Ansprüchen, Sachzwängen und Spannungsfeldern kommt, ist ja logisch. Wir alle entscheiden uns immer wieder dafür, gewisse Dinge nicht auszusprechen. Die Frage ist, aus welchen Gründen wir das tun. Da hilft es, wenn Sie einen funktionierenden moralischen Kompass haben und wissen, wer Sie sind. Wenn das Ihr Handeln leitet, brauchen Sie sich um Authentizität nicht zu sorgen.
Ihre Wirkung als Führungskraft – und übrigens auch sonst ganz allgemein – beruht auf Ihrem Tun und Ihrem Sein gegenüber anderen Menschen. Schauen Sie, dass das so nahe beieinander bleibt wie möglich, und dass Sie dabei nicht nur an sich denken. Dann ist Vieles schon mal gut, und Leadership kann sich entfalten.