In den letzten Wochen habe ich immer wieder an das Seminar „Krisenintervention“ im Rahmen meiner Ausbildung in Gestalttherapie gedacht. Dort bin ich einer Sichtweise begegnet, die mir bis heute immer wieder nützlich war: der von äusserer und innerer Struktur.
Mit innerer Struktur sind diejenigen Strukturen gemeint, die innerpsychisch begründet sind, alles, was mir psychisch und seelisch Halt gibt. Zum Beispiel meine Zuversicht, Urvertrauen, Akzeptanz, Selbstfürsorge, Spiritualität. Äussere Struktur meint alles, was ausserhalb dieser Sphäre liegt: Ein Dach über dem Kopf, Tagesstruktur, Soziale Strukturen, verlässliche Regeln, der eigene Körper, ein wiederkehrender Lohn.
Je mehr die innere Struktur beeinträchtigt ist, desto wichtiger wird die äussere: deshalb ist es bei Kriseninterventionen die erste Pflicht, Strukturen zu etablieren. Dazu gehören ein in diesen Situationen direktives Vorgehen (weil die betroffenen Personen meist nicht mehr in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen), klare Abmachungen und enge Planung. Deshalb sind beispielsweise Tagesstrukturen so wichtig, wenn man psychisch belastet ist oder erkrankt. Oder die Aktivierung des sozialen Netzes.
Je mehr die äussere Struktur beeinträchtigt wird, desto wichtiger wird die innere. Dann wird geprüft, wie stark das Fundament ist, auf dem wir stehen. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und können uns auf ein hoffentlich stabiles Inneres abstützen. Urvertrauen, Zuversicht, Selbstwert, Spannungsregulierung, die Empfindung von Selbstwirksamkeit werden dann wichtig.
Momentan werden wir gerade in dieser Art geprüft: die äusseren Strukturen sind stark strapaziert: das öffentliche Leben liegt lahm, Kontakte dünnen aus, Strukturen der Arbeitswelt fallen teilweise weg. Die inneren Strukturen, auf die wir uns stützen können, sind jetzt besonders gefragt.
Deshalb ist es wichtig, die inneren Strukturen zu pflegen und Dinge zu tun, die einem gut tun. Und ja, es ist in Ordnung, die Sonne eines schönen Frühlingstages bei einem Espresso zu geniessen, auch wenn es gerade vielen Menschen dreckig geht. Man erhält sich nämlich so nachhaltig die eigene Funktionsfähigkeit und damit die Chance, Gutes zu tun.
„Social Distancing“ ist in dem Zusammenhang übrigens eine heikle Bezeichnung. Man sollte eher von „Physical Distancing“ reden, denn psychisch sollten wir uns gerade nicht voneinander distanzieren. Wir sind soziale Wesen, und tragende Beziehungen sind der wirksamste schützende Faktor in schwierigen Zeiten.
Wie gross der Stellenwert von inneren Strukturen und sozialen Kontakten ist, wird uns gerade heftig vor Augen geführt. Sie sind aber auch eine feine Sache: immer zur Verfügung, durch kein Erdbeben zerstörbar, extrem wirksam. Gut möglich, dass nach der Krise davon dauerhaft etwas hängenbleibt im Arbeitsalltag. Ich glaube, es würde uns sozial und ökonomisch gleichermassen guttun.
Allerdings ist es auch so: äussere Strukturen kann man relativ rasch etablieren. Innere Strukturen jedoch wachsen über Jahre. Zu dem Zeitpunkt, an dem Sie sie brauchen, sollten Sie sie schon haben. Die Arbeit an sich selbst ist eine weitsichtige Investition. Man sollte so früh damit beginnen wie möglich. Leadership Coaching ist dabei nur eine von vielen Möglichkeiten.
Zwei Anregungen zur Lektüre, falls Sie gerade viel Zeit zum Lesen haben:
„Daring Greatly“ (Brené Brown) deutsch / englisch. Brené Brown schreibt über ein Thema, das im Bereich von Leadership und Beziehungsgestaltung sträflich vernachlässigt wird: die Verletzlichkeit. Mein Beitrag: „Management und die Liebe“ (Tibor Koromzay) deutsch / englisch. Psychologische und spirituelle Grundlagen zu den menschlichen Anforderungen an die Führungskräfte, die wir in Zukunft brauchen werden.
Pflegen Sie Ihre Strukturen – die inneren ganz besonders. Hilft on und off the job.