Organisationsentwicklung: Wenn nichts die Teile zusammenhält

Man sollte das nicht während einer Flugreise denken. Sehr unpassend. Führt in kürzester Zeit zu Nackenstarre und flachem Atem – bloss nicht bewegen, wer weiss...nur gut kommt das selten vor, sowohl der Gedanke wie auch das reale...Sie wissen schon.

Aber mal ehrlich: das Gefühl ist um nichts weniger existentiell, wenn Sie eine Firma führen und eines Tages denken: „Was, wenn nichts die Teile zusammenhält?“ Nein, dieses Gefühl ist keinen Deut weniger beängstigend, und wenn Sie es haben, können Sie froh sein, wenn Sie in diesem Moment niemand sieht.

Was hält denn eine Organisation zusammen?

Die Prozesse? Was passiert denn mit denen, wenn alles agil, fluide, organisch und selbstorganisiert ist? Was schert sich denn Generation Y um Prozesse? „Trau keinem, der dir mehr als Null Vorschriften macht.“

Oder die physischen Strukturen? Die Gebäudemauern? Die sind wenigstens stabil. Obwohl, wenn es ausschliesslich die sind, dann sitzen Sie in einem Gefängnis. Auch nicht gerade kompetitiv.

Eine Kultur, die sich irgendwann im Pleistozän entwickelt hat? Ist die denn noch funktional? Und wenn Sie an der zu rütteln beginnen, fliegt Ihnen dann das ganze Teil – oder eben die Einzelteile – um die Ohren?

Eines ist jedenfalls sicher: Geld und Macht sind nicht die Faktoren, die eine Organisation zusammenhalten. Denn Geld und Macht sind unspezifische Grössen. Die sind in jeder Firma zu haben, mancherorts mehr, woanders weniger. Und weil Geld und Macht nichts Spezifisches haben, sind sie komplett ungeeignet, um die Identifikation mit einem Unternehmen zu fördern. Komplett ungeeignet für Organisationsentwicklung. Versucht wird es trotzdem immer wieder.

Dafür braucht es aber eine Dimension, die Menschen innerlich – und zwar authentisch und nicht neurotisch – berührt und die inhaltlich unternehmensspezifisch ist. Im Idealfall einzigartig, aber es geht auch darunter. Das kann eine Vision sein (wenn es eine kraftvolle ist), eine gemeinsame Idee, ein geteiltes Narrativ, eine Antwort auf die Frage „warum ist es gut und sinnvoll, genau das genau hier zu tun?“

Wertesysteme und Firmenkultur sind genau genommen dieser Dimension nachgelagert, denn sie bestimmen das „wie“, die Art und Weise des Tuns, vorher sollte aber das „was“ und „wozu“ klar sein, sonst hat Kultur kein Momentum. Firmenkultur landet also auf Platz zwei, aber keineswegs abgeschlagen: zusammen mit einem geteilten Narrativ bildet sie das Königspaar in erfolgreichen Unternehmen, unverzichtbar für jede wirksame Organisationsentwicklung.

Beide Elemente können die Konstante sein in Zeiten des Wandels: Kultur kann eine Organisation durch inhaltliche Umbrüche tragen, und eine gemeinsame Idee kann als Konstante den Weg weisen für die Weiterentwicklung der Firmenkultur. Immer öfter reisst der Wandel beides mit sich, was Veränderungsprojekten neue Dimensionen gibt. Schätzen Sie sich glücklich, wenn Sie heute schon eine Lern- und innovationsfähige Kultur haben. Sie ist die beste Lebensversicherung. Aber sie braucht einen inhaltlichen Kern, den sie auskleiden kann.

Ein solcher Kern hat Charme: Er kann auch in fluiden Organisationen wirken, in wechselnden Projektteams, in selbstorganisierenden Einheiten. Er erlaubt sogar gewisse kulturelle Unterschiede innerhalb einer Organisation, was alle Beteiligten davon entlastet, ständig mit der Bonsai-Schere Abweichungen zu kappen. Das kommt sowieso nur verkrampft daher und funktioniert eigentlich nur per Weisung, also nie.

Gefragt ist also ein sinnhaftes Gravitationszentrum, aber eines, das die Physik transzendiert und sich nicht in einem Massenmittelpunkt befindet (welcher CEO will sich schon als Massenmittelpunkt bezeichnet sehen?), sondern fraktal verteilt in der Organisation, und damit skalierbar ist. Und dann geht die Türe auf für Grosses.

aus dem Leimzoom