Organisationsentwicklung: Castingshows und bunte Smarties

Sehr viel Schaulaufen. Ganz allgemein, überall. Und in Zeiten der sozialen Medien und der Versteigerung des Selbstwertes an das globale Selfie-Publikum wird das eher nicht weniger werden. Castingshows rund um die Uhr, wir suchen den Superstar, das Supertalent, das Topmodel, Bauer sucht Frau (warum eigentlich nicht Superfrau?), Bachelor sucht irgendwas, Unternehmer sucht Investor – Menschen stehen Schlange, um sich vor einem Millionenpublikum völlig enthemmt zu entblössen, und die Medien sind offenbar der Meinung, dass uns das alles irgend etwas angeht.

Investor sucht absurd hohe Rendite, Mitarbeiter sucht Sinn...ach so nein, das war jetzt was anderes.

Wie siehts denn im Geschäftsleben aus? Beispiel Sitzungen: die sind in ihrer klassischen Form für erstaunlich viele Dinge komplett ungeeignet, aber auf jeden Fall eine wunderbare Plattform, um sich zu zeigen. Erst wird ein Thema eröffnet, dann die Diskussion, und in der gleichen Milisekunde geht das Brillanz-Casting los: Wer bringt die knackigste Rhetorik? Wer hat die beste Idee? Wer setzt sich durch? die Profilierung ist nicht selten mindestens so wichtig wie die sachlichen Beiträge.

...und im Nu ist der Raum voller bunter Smarties. Na ja, wenn sie wenigstens bunt wären – sie sind ja praktisch immer grau oder schwarz oder im besten Fall dunkelblau. Schimmelgraue Smarties? Ich weiss nicht recht...

Haben Sie schon mal einen Sitzungsleiter Folgendes sagen hören?: „Mit der Teilnahmeberechtigung für diese Sitzung haben wir alle unsere Kompetenz hinlänglich bewiesen, inkompetente Mitarbeitende werden nämlich nicht eingeladen. Die detaillierten Ranglisten diesbezüglich sind irrelevant, lasst uns das also als abgehakt betrachten. Nun zu unserer eigentlichen Aufgabe: Wir haben das Thema gehört. Ich schlage vor, dass wir jetzt fünf Minuten schweigen, in denen jeder und jede über das Thema nachdenkt. Danach beginnen wir zu diskutieren.“ Einen Versuch wäre es Wert, finde ich. Könnte einiges in Gang setzen punkto Organisationsentwicklung.

Wird das wirklich anders – wie uns Trendforscher teilweise voraussagen – mit der Generation Y, die in die Chefetagen wächst, und mit den vielen coolen unkomplizierten Startups dieser Generation? Einerseits scheren sich die viel weniger um Hierarchien, was dafür spricht, dass das Schaulaufen in Form von Macht- und Geltungskämpfen weniger werden könnte. Andererseits scheren sie sich so unglaublich darum, was andere von ihnen denken, dass sich da vielleicht eine mindestens so bösartige Form von Druck aufbauen könnte. Und soziale Systeme werden ja auch nicht einfach machtfrei, bloss weil ihre Mitglieder Digital Natives sind...wenn man den Berichten aus dem Silicon Valley glauben darf, zeichnet sich die durchschnittliche Unternehmenskultur dort vor allem durch Frauenfeindlichkeit, extremen Konkurrenzkampf und Druck ohne Ende aus – klingt irgendwie nicht nach was Neuem...

Egal wie gut jemand ist: will man Erfolg haben, muss man erst mal in die Aufmerksamkeit kommen. Soweit plausibel. Weil jedoch der Lärmpegel im Äther so hoch ist, muss man dafür immer mehr und immer schrilleren Radau machen. Problematisch genug, wenn der Radau zur Eintrittskarte wird, ohne die man gar nicht erst ins Spiel kommt. Schlimmer, wenn er zum Ersatzkriterium wird für die Beurteilung von Qualität und Fähigkeiten. Da könnte sich eine Warren-Buffet-Strategie lohnen: Ausschau halten nach Unterbewerteten Menschen (klingt nicht nur schrecklich, fühlt sich auch schrecklich an für die Betroffenen), die etwas zu sagen haben, und ihnen die gebührende Beachtung schenken.

Individuell berührt dies übrigens eine Grundsatzfrage, die für die eigene psychische Gesundheit hoch relevant ist: wem – wenn überhaupt – geben Sie die Legitimation, über Ihren Wert zu urteilen? Soll der überhaupt zur Diskussion stehen? Ich schlage vor: nein.

lieber bunt als grauzoom