Organisationsentwicklunng: Neuroquark mit Lametta

Zu den Top-Buzzwords der Gegenwart gehört zweifellos „Hirnforschung“ oder auch wahlweise die Vorsilbe „Neuro-„. Die Vertreter dieser Forschungsdisziplin sind Superstars der Wissenschaft, die gerne eingeladen werden, uns alles Mögliche zu erklären, offenbar in der Annahme, dass ihre Kompetenz quasi automatisch in praktisch jedes Gebiet diffundiert.

Entsprechend gross ist die Neigung von Dienstleistern, auf dieser Welle zu reiten. Praktisch jedes Gebiet wird von den Neuroturbos bedrängt, nicht zuletzt – aus meiner Sicht natürlich besonders lästig – Management und Beratung: Neuro-Coaching, Neuroleadership, Neurobiologie gelingender Changeprozesse, Hirnforschung für die Organisationsberatung, Hirnforschung für Führungskräfte, Neuromarketing.

Oder, besonders schön: „Frauen als Führungskräfte – Eine US-Neurobiologin erklärt, warum ihre Hirnleistung so gefragt ist.“ immerhin wird es die weiblichen Führungskräfte freuen, dass Männer auch mal ihr Hirn zur Kenntnis nehmen...

Die Formulierungen ähneln sich: „Unser Gehirn steuert unsere Gefühle“, „unser Gehirn tut dies und das“: ich und mein Gehirn. Manchmal frage ich mich, wer da noch alles bei mir zu Hause ist...

Mal ehrlich: Sind Sie schon mal einem Resultat der Hirnforschung begegnet, das Sie wirklich überrascht hat? Ich habe mal einen Neurowissenschaftler sagen hören: „Die Hirnforschung hat bis heute NICHTS herausgefunden, was Philosophie und Psychologie nicht schon lange wissen.“ Kleine Pausen steigern die Produktivität; wir können auch im höheren Alter noch etwas lernen; Empathie gibt es – na so was.

Da gibt es eine Hirnregion, die macht dies, eine andere ist zuständig für jenes. Herausfinden tut man das, in dem man z.B. Probanden mittels Magnetfelder Strom durch die Schädeldecke ins Hirn jagt und dann schaut, wie es da leuchtet – Dank sei den bildgebenden Verfahren. Okay, ich bin kein Fachmann, aber wenn Sie mich trotzdem fragen, scheint mir das den Differenzierungsgrad einer Streubombe zu haben. Das Erklärungspotential solcher Heransgehensweisen hat Heinz von Förster vor fünfzehn Jahren kommentiert – ich habe nicht den Eindruck, als hätte sich viel geändert.

Sollte ich vielleicht mit meinen Kunden eher morsen statt sprechen?

Dabei sind es gar nicht die Hirnforscher, die den Hype schüren, oder nur wenige. In einem Artikel von elf führenden Neurowissenschaftlern finde ich folgende Passage: „Aller Fortschritt wird aber nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden... Die Hirnforschung wird klar unterscheiden müssen, was sie sagen kann und was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegt, so wie die Musikwissenschaft...zu Bachs Fuge Einiges zu sagen hat, zur Erklärung ihrer einzigartigen Schönheit aber schweigen muss.“

Nein, der Hype um die Neurowissenschaften hat meines Erachtens ihren Grund darin, dass wir nicht aufhören zu hoffen, die Welt sei linear kausal erklärbar und es möge jemand geben, der uns genau sagen kann, wie es ist.

Ich glaube aber nicht, dass wir uns mit der Entwicklung der Hirnforschung auf einer Gerade befinden, deren Extrapolation direkt auf den Stein der Weisen trifft, sondern auf einer Asymptote – die sich ihrem Objekt stetig nähert, es aber niemals erreicht. Waren Sie schon mal neuronal berührt? Ich finde, wenn es darum geht, etwas über uns selbst herauszufinden oder über unsere Organisationen, geben die Geisteswissenschaften mehr her. Wer mit Organisationsentwicklung nicht wartet, bis die Hirnforschung das alles bestätigt hat, spart viel Zeit.

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