Organisationsentwicklung: Rein in die Komfortzone!

Da darf man ja nicht sein, nicht wahr? Pfui pfui, böse, böse - die Komfortzone ist des Teufels. Wer dort ist, muss da rausgeholt werden. Denn in der Komfortzone droht die Genügsamkeit, der Schlendrian, die Trägheit. Wenn man in der Komfortzone ist, dann gibt’s keinen Change, und hohe Leistung schon gar nicht – so klingt der Tenor.

Ein guter Manager kriegt die Leute da auch raus, und wer kennt nicht den markigen Satz in manchem Managergarn um geschlagene Schlachten: „Da mussten wir uns alle aus unserer Komfortzone bewegen“. Für die Mitarbeitenden gilt, sich bloss nicht in der Komfortzone erwischen zu lassen, sonst gerät man in Verdacht, unproduktiv zu sein, und das kann fatale Folgen haben.

Also wird die Komfortzone dauernd zwangsgeräumt: „raus hier, und ran an die Arbeit!“. Die einen treiben, die anderen flüchten - Hauptsache nicht im Sperrgebiet.

Und das ist, mit Verlaub, Quatsch. Die Komfortzone ist lebenswichtig. Ohne sie fallen leicht zwei Dinge weg, die für wiederholte Höchstleistungen über längere Zeit unabdingbar sind, nämlich Rhythmus und Reserven. In anderen Gebieten und Disziplinen ist das vollkommen selbstverständlich:

  • Spitzensportler sorgen dafür, dass sie eine Balance erreichen zwischen Training und Regenerationsphasen. Jeder weiss, dass übertrainierte Sportler an Leistung einbüssen.
  • Im Theoriemodell der Gestalttherapie gibt es den sogenannten Gestalt-Zyklus als Modell für die Selbstregulation eines gesunden Organismus. Dieser Zyklus ist charakterisiert durch wiederkehrende ansteigende und abfallende Grade der Aktivierung.
  • Interagierende Musiker im Jazz spielen dann am besten, wenn sie unter ihrem Limit bleiben, denn dort verfügen sie über die nötigen Reserven, um auf ihre Mitmusiker zu reagieren, um während dem Spiel spontan zu kreieren, und um die Leichtigkeit im Spiel zu halten.
  • Atmung funktioniert nur mit Rhythmus. Schon mal versucht, immer nur einzuatmen?
  • Selbst Spitzensportler spielen die meiste Zeit unter ihrem Limit; die letzten Reserven werden nur in Peak-Situationen abgerufen, wenn es um alles geht, und das ist beileibe kein Dauerzustand.

Wenn Roger Federer in einem Interview so etwas sagt wie: „ich habe anstrengende Wochen hinter mir, habe mich jetzt aber gut erholen können durch zwei Wochen Nichtstun und fühle mich wieder frisch für die wichtigen Dinge, die kommen“, dann nicken wir anerkennend ob dieser professionellen und umsichtigen Planung. Wenn das ein Manager im Interview sagt...es wäre mal den Versuch Wert, finde ich. Da würde sich Leadership Qualität zeigen.

Wer an seiner Grenze agiert, hat keine Reserven und beginnt zu fusseln. Dann braucht es nur noch eine Winzigkeit mehr, und das System bricht zusammen. An der Grenze zu agieren und sie zu überschreiten ist in Ordnung in Lernsituationen, um die eigenen Grenzen zu erweitern, aber nicht im Alltagsgeschäft. Wenn man sich die heutigen Belastungssituationen in Unternehmen vor Augen führt, muss man davon ausgehen, dass ganze Organisationen am Rande des Zusammenbruchs agieren, und zwar nicht in Peaksituationen, sondern dauernd. Falls sich Risk Manager mit diesem höchst realen Risiko beschäftigen, scheinen sie es immer noch als tragbar zu beurteilen.

Mit der Zwangsräumung der Komfortzone in Organisationen ist es wie mit den Rauchern: sie werden immer kurzatmiger und bringen sich langsam um. In beiden Fällen fragen sich Aussenstehende, wie sich intelligente Menschen das antun können. Die Raucher argumentieren mit dem Genuss, die Unternehmen mit dem Kick der Höchstleistung und dem Konkurrenzdruck, und bei beiden spielen soziale Normen, Gewohnheiten und Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle, also die kulturellen Gepflogenheiten. Organisationsentwicklung kann hier ansetzen. Wie ist in Ihrer Organisation das soziale Ansehen von Leuten, die sich Regeneration offen zugestehen, womöglich sogar während der Arbeitszeit?

Langfristig orientierten Unternehmen sei zugerufen: Bringen Sie Leben in die Komfortzone! Sie ist die Tankstelle, die es erst ermöglicht, in den anderen Zonen zu bestehen. Richten Sie sie nicht als Dauerbleibe ein, aber lassen Sie Durchgangsverkehr zu, sonst wird „the Big One“ für Sie einiges wahrscheinlicher als für die Einwohner von San Francisco. Lernen Sie von Sportlern und Musikern – aber lassen Sie sie nicht dauernd nur über Höchstleistung in Peaksituationen referieren, sondern auch über deren Voraussetzungen. Schliessen Sie Frieden mit der Komfortzone und nutzen Sie sie – Ihre Organisation wird es Ihnen danken mit erhöhter Leistungsfähigkeit.

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